Breakbeat, UK Bass, IDM: “Crush” – ein kognitives sowie körperliches Experiment, bei dem nicht nur Genre-, sondern auch professionelle Grenzen so stark verschwimmen, als dass eine Unterscheidung zwischen dem Werk des Neurowissenschaftlers Sam Shepherd und Musiker/DJ ‘Floating Points’ schier unmöglich wird. Frei nach Freud – Was war zu erst da: der Gedanke oder die Handlung?

VÖ: 18.10.19 via Ninja Tune

Hingegen der Annahme, „Crush“ komme von der englischen Redewendung „to have a crush on somebody“, also sich in jemanden verguckt haben, steht der Albumtitel für das Zerschlagen, das Einengen, das Zerstören, die Vernichtung. Kein Zufall, dass „Crush“ auch als Gedränge oder Gewühl übersetzt werden kann, denn Shepherds Album bringt den Hörer an die Grenzen eines paranoiden, panischen Seins. Ein enthusiastischer Widerspruch: sich in die Ecke gedrängt und dennoch zum Tanzen animiert fühlen.

Mit zarten Melodien epochaler Streichinstrumente und summenden Synthesizer-Beats im Song „Falaise“ eröffnet Floating Points das zweite Album seiner zehnjährigen Karriere. Bereits in den ersten Sekunden des Opener Tracks offenbart sich Shepherds Liebe zum Detail, welche bei einem fünfwöchigen Entstehungsprozess schwer zu fassen ist. Der Klang verhält sich wie die Essenz des Lebens – wie glasklares Wasser: Shepherd filtert für sein audiophiles Publikum eine hypnotisierende, körperliche und geistige Erfahrung aus den dreckigsten Gewässern, so schmiegsam, ohne auch nur mit einem einzigen Kratzen über das Trommelfell des Publikums zu fließen. Es ist ein stimmiges, reibungslos in sich übergehendes Gesamtwerk, das schon mit den ersten Sekunden eine Vorstellungskraft hervorruft, die einen in „Falaise“ schnell an bewegliche Luftartisten am Trapez denken lässt. Die weiteren Songs des Albums hangeln sich an der Klippe einer rauen Steilküste wagemutig und elegant zugleich hinab, stets am Vertikaltuch hängend, als Grenze des Möglichen und Erträglichen, ohne dass das Publikum die Angst vor dem Abgrund wirklich erfahren muss und dennoch so, dass all die Gefühle des Artisten von Synapse zu Synapse der lauschenden Zuschauer realitätsgetreu vermittelt werden.

Betäubend und auftreibend zugleich geht die Zirkusnummer „Falaise“ in die Ambient/Acid-House-Nummer „Last Bloom“ über: Tröpfelnd und prickelnd bringt der Track eine unbändige Unruhe zum Vorschein, um dann die Rezipienten nach und nach warm für eines der aufregendsten Lieder auf „Crush“ zu machen. Mit einer Mischung aus IDM und mittelschnellem Breakbeat erinnert „Anasickmodular“ mit seinem tiefen Wummern und Tösen an Nummern wie „Acid Soul“ (2002) von Tiefschwarz oder „Rest“ (2019) von Brandt Brauer Frick, stets angelehnt an das dystopische Album „Mirapolis“ (2017) des Franzosen und Wahl-Berliners Rone. „Anasickmodular“ verhält sich wie der Call-and-Response-Aufbau eines Blues-Songs, nur als mittelschneller Breakbeat. Es hört sich an, als kämpften zwei Melodien um die Dominanz über den Takt, wie ein Gezanke zwischen zwei aufgeregten Kindern, immer wieder gemaßregelt durch die moralisierende Stimme eines erbosten Elternteils.

Die Dramaturgie von „Crush“ wirkt einheitlich zerrissen und zusammengeflickt, was vor allem in der Länge der Stücke spürbar ist. Es scheint, als hätte Shepherd sich nicht festlegen wollen, ob lieber kurze brachiale Songs von ungefähr zwei Minuten Länge oder Fünf- bis Sechs-Minüter sein Album dominieren sollten. Hinter dem fast zweiminütigen „Karakul“ versteckt sich ein zitterndes, bibberndes Breakbeat-Ambient-Stück, welches den Trance-Vibe der darauffolgenden von der Länge her radiotauglichen Vorabsingle „Les Alpx“ einfacher zu verdauen, aber trotzdem umso aufregender macht. Die Einspieler im Lied „Les Alpx“ hören sich an wie Klingeltöne. In Zeiten des allzeit erreichbaren und gestressten Menschen animiert der treibende Beat zum Tanzen, ohne auch nur eine Sekunde mit einem Blick auf das Smartphone verschwenden zu wollen.

Doch auch vor Trip-Hop-Einflüssen schreckt Floating Points’ zweites Album nicht zurück: Knisternde LoFi-Effekte und Noise-Spuren feiern ihr größtes Fest und regen die grauen Zellen an, in andere Welten zu entfliehen, um mit neuer Energie und Inspiration in unsere zurückzukehren. Mit „Bias“, dem siebten von insgesamt zwölf Tracks, beginnt die ruhigere B-Seite, welche introvertierter, nachdenklicher wirkt. Es folgen der ambient-orchestrale Song „Birth“ und die Ballade „Sea-Watch“, welche unverkennbare Spuren von verträumtem Synth-Pop vorweisen.

Mit seinem zweiten Longplayer „Crush“ ist Shepherd ein komplexes und stimulierendes Meisterstück gelungen, welches nicht davor scheut, seine Hörerschaft vom Geschehen im Club- sowie auch zur Ruheoase des eigenen Wohnzimmers hin- und her zu scheuchen. Filigran und brachial zugleich, zeigt es die innere Zerrissenheit und Nervosität der Briten inner- und außerhalb der EU musikalisch auf, in etwa so wie sich ein deutscher Tourist in Shepherds Heimat, Manchester in (Nord-)England, fühlt: stets ums nackte Überleben kämpfend, nicht vom nächsten roten Bus überfahren zu werden, gleichzeitig aber der Erkenntnis gewiss, eine neue Ruheoase gefunden zu haben, die mit ihrem pulsierenden und manischen, von Drogen angetriebenen Nachtleben sicherlich nicht träge, gar langweilig macht.

„Crush“ ist eine Ode an die elektronischen Spielarten der 1990er, welche vor allem in Floating Points’ Heimatstadt Manchester verankert ist. So holt Floating Points Avantgarde-Techno wieder in die Gegenwart, ohne in Nostalgie zu verfallen. Floating Points’ zweites Album „Crush“ ist somit der unanfechtbare Beweis dafür, dass elektronische Musik zeitlos Zeitgeist vermitteln sollte, muss und kann.

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